Wikipedia? Wikipedia!
Es muss 2016 gewesen sein. Es ist gegen 12 Uhr; um 12:30 muss ich im Vorstand eine Präsentation halten. Eine private E-Mail deren Inhalt ich nicht verstehe ist gerade gekommen; ist ja noch ein wenig Zeit; also versuche ich mit Hilfe von Wikipedia den Inhalt zu entschlüsseln. Da lese ich also:
‘betroffene Kinder erblinden im Alter von 12 Jahren. Hörschäden beginnen ebenfalls während der Kindheit. Dilatative Kardiomyopathie und plötzliche Herzinsuffizienz können in der Kindheit, im Jugendalter oder im erwachsenen Alter auftreten. Das Risiko einer Kardiomyopathie im Jugend- oder Erwachsenenalter ist für die Patienten erhöht, die bereits im Kleinkindalter eine dilatative Kardiomyopathie durchgemacht haben. Weitere häufige Probleme sind Übergewicht, Insulinresistenz oder Typ-2-Diabetes, erhöhte Fettwerte – vor allem Triglyceride – im Blut, Leberprobleme, Infertilität und Schilddrüsenprobleme.‘
An die dann folgende Präsentation im Vorstand kann ich mich heute nicht mehr erinnern.
Was war das für eine E-Mail? Diese kam von Bens Mama - unser Sohn ist heute 9 Jahre alt ist. Sie enthielt das Ergebnis einer Genanalyse, die wir nach Jahren des ‚Suchens‘ gemacht haben, in der Hoffnung, zu erfahren, was die Ursache für Bens Sehbehinderung ist. Da mehr gefunden wurde als eigentlich gesucht wurde, bekamen wir dieses Ergebnis durch einen Zufall…und ohne Erklärung.
Ben war zu diesem Zeitpunkt knapp 4 Jahre alt. 4 Jahre des Suchens gingen damit zu Ende. 4 Jahre, das klingt erst einmal lange (und ist es natürlich auch). Im Falle einer seltenen Erkrankung wie dem Alström Syndrom, an dem Ben leidet, ist es aber eher die Regel als die Ausnahme. Seltene Erkrankung bedeutet – nicht nur bei einer ultra-seltenen Erkrankung wie dem Alström Syndrom mit einer Prävalenz von 1:1.000.000 - dass nur sehr wenige Ärzte jemals davon gehört haben; und damit auch nicht in der Lage sind, diese zu diagnostizieren. Wie bei jeder Krankheit ist eine frühe Diagnose wichtig; im Bereich der seltenen Erkrankungen kann es aber oft überlebenswichtig sein. Alström ist hier ein gutes Beispiel. Betroffene sind sehr oft adipös; sie haben kein Sättigungsgefühl, sind insulinresistent und Diabetes Typ II gefährdet. Je früher man die Krankheit erkennt, desto eher kann man zumindest über Bewegung und Ernährung, aber auch Bewusstseinsbildung bei den Betroffenen, versuchen, die Auswirkungen zumindest ein wenig zu kontrollieren.
Wie ist es nun, wenn so eine Diagnose so plötzlich in das Leben tritt? In meinem Fall: Es verändert nachhaltig – auf erstaunliche und bereichernde Weise. Man lernt, den Augenblick zu schätzen und genießen; sich von banalen Vergleichen zu emanzipieren; aber vor allem lerne ich von einem kleinen Mann, was Glück und Glücklichsein bedeutet. Ben ist so gut wie blind, sein Hörvermögen liegt (noch) bei knapp 60% und seine Körpergröße ist mittlerweile unter der für sein Alter typischen. Und das ist erst der Anfang – die Jahre, in denen die Krankheit ihr ganzes, schreckliches Gesicht zeigen wird, kommen noch. Trotzdem sieht sich Ben ‚als Glückskind‘; möchte nie, dass seine ‚schönste Kindheit der Welt‘ endet, liebt Menschen (‚Papi, ich mag es so wenn viele Menschen um mich sind‘) und beginnt die meisten Tage wie er sie beendet: mit einem Lächeln. Ben will Müllmann werden und spielt Fußball. Er liebt es zu malen; hat sogar seine eigene kleine Website, auf der man seine ‚Werke‘ bewundern kann. Spielt Klavier (mit einer Hand liest er die Braille-Noten, mit der anderen spielt er).
Er bekommt Hörgeräte, nennt sie Lauschis und ist ganz stolz. Der Blindenstock machte ihn noch stolzer, Ben erklärte aufgeregt jedes Detail. Kommt da beim Lesen ein ‚oh mein Gott‘-Reflex? Warum eigentlich…?
Was man aber auch lernt ist eine brutale Hilflosigkeit. Wie in vielen anderen Fällen auch ist das Alström Syndrom noch nicht richtig erforscht und in seinen Konsequenzen verstanden. Wenige Fälle bedeutet auch wenig Empirie; d.h. es gibt so gut wie keine Informationen zu typischen Verläufen. Heilung? Gibt es keine. Therapien? Nichts Spezifisches. Ganzheitliche Betreuung? Unmöglich. Das bedeutet, Betroffene sind auf ihre eigenen Möglichkeiten angewiesen, sich Hilfe zu holen. Bildung, Wohnort, sprachliche Fähigkeiten, finanzielle Rahmenbedingungen – all das entscheidet darüber, ob man in der Lage ist, seinem Kind oder sich selbst zu helfen.
Ist halt so, denkt sich jetzt vermutlich manche/-r. Geht vielen Leute so; nicht nur bei seltenen Erkrankungen. Habe ich auch lange gedacht und selbst als ich es bei meinem eigenen Kind erfahren habe, lange akzeptiert, dass es eben so ist. Aber ist nichts tun die Lösung? Ist es das, was uns Menschen ausmacht? Zu resignieren und die Verantwortung immer bei den anderen suchen?
Man beginnt sich weitere Fragen zu stellen. Wir leben in Zeiten, die zu Recht nach Gleichberechtigung rufen. Dabei beobachtet man sein fast blindes Kind, wie es sich durch den Alltag kämpft. Ohne sein Recht auf Freiheit. Ohne ‚gleich‘ behandelt zu werden. Schließen wir alle mal die Augen und laufen zum Supermarkt. Alternativ holen wir uns – mit geschlossenen Augen - eine Tasse Kaffee. Fühlen wir uns dabei ‚frei‘? Wo bleibt hier der Aufschrei? Mehrer hunderte Millionen Menschen weltweit teilen dieses Schicksal.
Je länger ich Ben mit seiner positiven und lebensbejahenden Haltung erleben durfte, umso größer wurden meine eigenen Zweifel, ob ich weiterhin meine eigenen Ziele verfolge und akzeptieren kann, dass sich letztlich niemand um Ben – und die vielen, vielen „Bens“ dieser Welt – kümmert. Das ist natürlich ein sehr unfairer Satz in Richtung all der vielen Personen und Organisationen, die täglich dafür kämpfen, verstärkt auch die seltenen Erkrankungen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bekommen und auf der Suche nach Lösungen sind. Aber letztlich war es mein Empfinden als Vater.
So habe ich irgendwann die schwierigste und zeitgleich einfachste Entscheidung meines Lebens getroffen. Meinen Beruf aufzugeben um ‚etwas zu tun‘. Nicht nur mehr Zeit mit meinem Kind zu verbringen, sondern auch strukturell und systemisch auf Verbesserungen hinzuwirken.
Geht es mir ‚nur‘ um die Erforschung von Alström und eine ‚schnelle‘ (ein Wort, das im Zusammenhang mit diesem Themenkomplex eigentlich unangebracht ist) Hilfe für Ben? Nein – ein Professor hat mir vor einigen Jahren einen sehr schmerzhaften, aber wertvollen Hinweis gegeben: sich nie von der Hoffnung leiten zu lassen, dass neue Erkenntnisse oder andere medizinische Fortschritte dem eigenen Kind sofort helfen werden. Damit würde man irgendwann in einem ‚See enttäuschter Hoffnungen‘ ertrinken. Aber deshalb zu resignieren und nichts zu tun? Das hatten wir schon – siehe weiter oben.
Mein Ziel ist es, dass man sich zukünftig um Krankheiten bzw. die von Krankheiten betroffenen Menschen verstärkt und ganzheitlich kümmert. Man sie an die Hand nimmt. Ihren ohnehin schon mühevollen Weg nicht noch weiter erschwert, sondern zumindest einige Lasten abnimmt. Forschung, Früherkennung, Diagnose, Therapie bis zur Lebenshilfe – an einer Stelle – vereint. Ob Center of Excellence der richtige Name ist (dieser stößt teilweise auf negative Reaktionen - eigene Kompetenzen abzugeben und anderweitig zu bündeln ist nicht immer gewünscht…) tut nichts zur Sache.
Es geht darum, dass es Einrichtungen (physisch oder teilweise virtuell) gibt, die einen gesamthaften Blick auf eine Krankheit haben und Betroffene an die Hand nehmen. So wichtig spezifische Kompetenzen in den einzelnen Bereichen sind, so wichtig ist auch jemand, der das Bild in Summe versteht und für Betroffene übersetzt. Der beste Motor der Welt hilft nichts, wenn niemand das gesamte Auto zuverlässig zusammenbauen kann.
Noch ein Wort zur ‚Lebenshilfe‘ – darunter verstehe ich auch die psychische Gesundheit und die soziale Integrationen bzw. Interaktion. Leider ist eine gewisse soziale Isolation sehr oft ein Begleiter einer solchen Erkrankung. Selbst wenn Betroffene irgendwann ‚Normalität‘ erfahren durften; irgendwann vergrößert sich die Distanz zu ‚normalen‘ Kindern/Menschen. Dafür zu sorgen, dass auch dieser Bereich nicht aus den Augen verloren wird, ist höchst relevant.
So entsteht letztlich ein patientenorientierter, auf die individuellen Bedürfnisse und den individuellen Erkrankungsgrad eines jeden Patienten angepasster, diversitätsorientierter Ansatz für den Umgang mit einer Krankheit. Dieser datengetriebene, zukunftsorientierte und nachhaltige Ansatz ist inklusiver, berücksichtigt individuelle Lebenszusammenhänge und -stile, Krankheitsprofile und Pflegebedürfnisse.
Gerade bei seltenen Erkrankungen muss man Kräfte, Kompetenzen und Erfahrungen bündeln. Der ‚Kampf‘ gegen seltene Erkrankungen funktioniert nicht im Kleinen, er muss gemeinsam und global betrachtet und geführt werden.
„Alström“ ist keine Initiative, die mit einfach Bildern versucht, Mitleid zu wecken. Es ist eine Initiative, die langfristige Verbesserungen anstrebt – zum Nutzen möglichst vieler Menschen – und Alström soll dabei den Anfang bilden.
Ob es funktioniert? Das weiß ich nicht – aber nichts getan wurde lange genug; und ich finde es einen Versuch wert, zu verhindern, dass Menschen auch zukünftig auf Wikipedia das Schicksal ihres Kindes erfahren.